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Destinations-Management im Fokus: Willkommen in der Spiegelwelt

Klimawandel, Künstliche Intelligenz und die wachsenden Ansprüche des Urlaubermarktes verlangen nach neuen Konzepten und Botschaften: Die Stadt Wien empfiehlt sich ihren Fans jetzt sogar in Tablettenform. „Microdose Vienna“ lautet die Aktion, mit der Wiens Tourismuswerber Gäste aus USA und Großbritannien in die österreichische Kunst- und Kulturmetropole locken wollen. Ein schmuckes Set mit sechs bunten Kapseln - angeblich angereichert mit Lipizzaner-Schweiß und Museumsstaub - verspricht den Konsumenten Zugang „zu einzigartigen Wien-Erlebnissen“. Das mittels Verlosungen und Gratisaktionen verteilte Set wurde mancherorts belächelt, bescherte den Wien-Werbern jedoch breites Medienecho und zahlreiche Kommentare auf Social Media.

Originelle Ideen sind im Destinations-Marketing stets willkommen. Doch wenn Reiseziele zukunfts- und wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen sie mehr bieten als die Verabreichung bunter Pillen. Viele touristische Top-Destinationen, aber auch weniger bekannte Urlaubsziele stehen 2024 vor erheblichem Innovations- und Anpassungsdruck. Die Herausforderungen des sich verschärfenden Klimawandels, die Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz sowie eine deutlich anziehende Nachfrage in vielen Quellmärkten verlangen danach Strukturen und Vermarktungskonzepte zu überdenken.

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ITB Berlin 2024 - The Future of Destinations

Die nach Ende der Corona-Pandemie neu erwachte Sehnsucht zu reisen geht bei vielen Urlaubern Hand in Hand mit veränderten Erwartungshaltungen und Ansprüchen: Nachhaltigkeit, digitale Infrastruktur sowie der Wunsch nach individuellen und authentischen Urlaubserlebnissen gewinnen für viele Zielgruppen an Bedeutung. „Urlauber werden insgesamt immer anspruchsvoller. Die Erwartungen an die Reise sind größer denn je“ beobachtet David Pavelko, Global Travel Business Development & Strategy bei Google.

Laut Gilabert Jorge, Partner des Beratungsunternehmens Deloitte, ergeben sich daraus für die Destinationen zunächst mehr Möglichkeiten als Risiken: „Die Gründe und Motive für das Reisen sind bunter und vielfältiger geworden. Und weil der Kuchen insgesamt deutlich größer geworden ist, bestehen auch gute Chancen für Destinationen, die ihre Hausaufgaben machen“, versichert der Experte.

Doch gleichgültig ob Metropole oder Provinzstadt, Badestrand oder Berglandschaft - bei der Vermarktung von Urlaubszielen wird es künftig verstärkt darum gehen müssen, Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekte stärker in den Fokus zu rücken. In vielen Ländern hat die Klimadebatte die Mitte der Gesellschaft erreicht. Zunehmend mehr Touristen möchten ihren Urlaub in Einklang mit Umwelt- und Nachhaltigkeitszielen verbringen. Dieser Trend lässt sich nicht nur im Westen, sondern auch auf den dynamisch wachsenden Kundenmärkten Asiens beobachten. „Auch in China interessieren sich zunehmend mehr Menschen für Nachhaltigkeit und Umwelt-Themen. Das gilt insbesondere für viele junge Chinesen. Die Destinationen müssen darauf reagieren“, fordert China-Experte Wolfgang Georg Arlt, CEO des Outbound Tourism Research Institut (COTRI).

Die großen Buchungsplattformen besitzen bei dieser Entwicklung eine kaum zu unterschätzende Steuerungsfunktion. Ein Konzern wie Booking sieht sich in der Rolle des Impulsgebers: „Wir beobachten, dass immer mehr Menschen ihre Reisen nachhaltig gestalten möchten. Deshalb wollen wir dafür sorgen, dass sie bei uns auch mehr Nachhaltigkeitsangebote finden können“, betont Danielle D’Silva, Head of Sustainability by Booking.com.

Gewinner dieser Entwicklung sind Urlaubsziele wie das italienische Grosseto, das sich bereits vor Jahren einer konsequent nachhaltigen Tourismusstrategie verschrieben hat. Die toskanische Region und gleichnamige Stadt wurden in diesem Jahr von der Europäischen Kommission mit dem Preis „European Green Pioneer of Smart Tourism“ ausgezeichnet. Nachhaltige Landwirtschaft, lokale Produkte, regionale Wertschöpfung, Fahrrad-Tourismus und ein umfangreiches Kulturangebot sollen eine grüne Alternative zum Ressourcenverbrauch der Massenziele bieten. „Leben mit der Natur ist für uns kein Schlagwort. Allein 60 Prozent unserer Landwirtschaft sind biologische Anbauflächen“, betont Maria Luisa Scorza, Sprecherin des Fremdenverkehrsamtes Grosseto.

Doch nicht nur ländliche Regionen, auch Städte und Ballungsräume werden ihren Gästen künftig nachhaltigere Strukturen anbieten müssen, die für mehr Aufenthaltsqualität und weniger Urlaubstress stehen. Orte, die unter saisonaler Überlastung, erschöpfter Infrastruktur oder Wasserknappheit leiden, sind gut beraten Buchungsspitzen zu entzerren und Besucherbewegungen stärker zu lenken. Die sorgfältige Analyse touristischer Buchungs- und Bewegungsdaten besitzt bei dieser Aufgabe eine Schlüsselrolle. Modernes Datenmanagement kann helfen Angebot und Nachfrage in einer Destination effizienter zu koordinieren. Typische Probleme der Hochsaison wie lange Wartezeiten vor Attraktionen oder der Personalmangel in Hotels und Gastronomie würden dadurch zwar nicht völlig verschwinden, könnten aber deutlich abgemildert werden.

Die großen Tech-Konzerne stehen bereit, um die notwendige digitale Infrastruktur bereitzustellen. Vor allem Künstliche Intelligenz (KI) kann dazu beitragen Kapazitäts-, Ressourcen- und Allokationsprobleme in der Reisebranche besser zu analysieren. „KI wird das Wesen des Tourismus zwar nicht verändern. Aber es wird helfen touristische Dienstleistungen zu verbessern und effizienter zu organisieren“, erwartet Edmund Bartlett, Tourismusminister von Jamaika.

Einige Destinationen haben die Zeit der Ankündigungen hinter sich gelassen und analysieren bereits ihren eigenen Umgang mit KI. So bietet Dublin ein KI-generiertes Besuchsprogramm an, das individuell auf die Wünsche der Gäste eingeht. Barry Rogers, Head of Dublin City Tourism, zeigt sich überzeugt, dass KI im Tourismus für völlig neue Strukturen sorgen wird. „Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auf Nachhaltigkeit und auf Technologie. Wir sind eine der ersten Destinationen, die eine Partnerschaft mit Open AI eingegangen ist. Das ist für uns kein Selbstzweck. Wir wollen eng mit der lokalen Bevölkerung zusammenarbeiten und Mehrwert für alle Beteiligten bieten.“ Rogers sieht KI-Potenziale unter anderem bei der Lenkung von Besucherbewegungen, bei der Erschließung der Nebensaison oder bei der Bereitstellung von Augmented-Reality-Erlebnissen. Die irische Hauptstadt, die 2024 von der Europäischen Kommission als „European Capital für Smart Tourism“ ausgezeichnet wurde, zählt auch hier zu den Pionieren und bietet einen historischen Rundweg in Form einer Augmented Reality Tour an.

Die neuen Möglichkeiten der jüngsten Digital-Innovationen sind mit solchen Angeboten angedeutet, aber bei Weitem nicht ausgereizt. Auch wenn die Bereitstellung virtueller Welten und Erlebnisräume die touristische Wirklichkeit möglicherweise nicht komplett ersetzen kann, erscheint eine Verknüpfung beider Sphären vielerorts möglich und sinnvoll. „Wir sollten das Metaverse auch als eine Spiegelwelt sehen, die virtuelle Umgebungen schaffen kann, die mit der realen Welt verbunden werden können und die Komplexität und neue Situationen schaffen können“ empfiehlt Vanessa Borkmann, Forschungsleiterin des FutureHotel Innovation Network, Fraunhofer IAO. Auf Werbung in Tablettenform würde man dann vermutlich verzichten können.

Text: Von Martin Jahrfeld